Man kann zum Muttertag Blumen schenken oder Pralinen – oder einen Ausflug in die Vergangenheit, der direkt nach Mühlacker führt. Hier hat, am Fuße des einstigen Holzsenders, Dorothee Windmiller geborene Fohrer fünf Jahre ihrer Kindheit verbracht, und hierher ist sie am vergangenen Wochenende – 75 Jahre später – zurückgekehrt.
Mühlacker. Immer wieder hat Dorothee Windmiller, inzwischen 84 Jahre
jung, dreifache Mutter und achtfache Großmutter, ihrer Familie von
„ihrem“ Sender erzählt; zwei Bilder des Mühlacker Wahrzeichens schmücken
nach wie vor das Wohnzimmer in Ulm. Vieles ist in einem
Dreivierteljahrhundert passiert, doch die Zeit in Mühlacker ist
unvergessen geblieben. Der Vater, Rudolf Fohrer, wechselte als
Angestellter der Post häufig den Arbeitsplatz und deshalb, mit Frau und
Kindern, auch den Wohnort. Von 1934 bis 1939 war er als Techniker
zuständig für den 1930 eingeweihten ersten deutschen Großsender, der
damals noch auf einem 190 Meter hohen Mast aus Holz ruhte.
„Hier stand früher, von der Stuttgarter Straße bis hinauf zum Tor, kein einziges Haus und kein Baum – einfach nichts“
Vieles
ist in einem Dreivierteljahrhundert passiert, und das gilt auch für
Mühlacker, seine Senderanlage und die gesamte Stadt. Was genau sich
verändert hat, erfuhr Dorothee Windmiller am vergangenen Sonntag, als
die Familie den Herzenswunsch erfüllte und die Mutter mitnahm auf eine
Spurensuche zu Füßen des Senders. „Hier stand früher, von der
Stuttgarter Straße bis hinauf zum Tor, kein einziges Haus und kein Baum –
einfach nichts“: Der Senderhang, längst ein belebtes Wohngebiet mit
Hochhäusern, ist für den Gast aus Ulm ein unbekanntes Terrain. Der Zaun
um die eigentliche Senderanlage ist weitläufiger gezogen, und dennoch
war einst, für das kleine Mädchen, das Gelände die ganze Welt. „Hier gab
es ein kleines Akazienwäldchen, in dem der Vater eine Kletterstange
anbrachte“, erinnert sie sich. Die kleine Dorothee ärgerte sich mächtig,
dass sie regelmäßig scheiterte – bis sie es eines Tages doch noch hoch
schaffte, dafür aber nicht mehr runter …
Die Zukunft des Senders
ist ungewiss, doch in der Biografie von Dorothee Windmiller ist das
Bauwerk fest verankert. Im April 1945, zum Ende des Krieges, wurde der
alte Turm, der als einer der höchsten Holzbauten aller Zeiten gehandelt
wird, von Pionieren der Wehrmacht gesprengt, damit er nicht in
„Feindeshand“ fällt.
Überstanden hat den Krieg das Wohnhaus, das,
wie Dorothee Windmiller voller Freude feststellte, noch da steht wie
anno dazumal. Vier Familien lebten hier: oben links die fünfköpfige
Familie Fohrer, darunter die Langs, auf der anderen Seite die Doblers
und die Familie des Hausmeisters Kirschmer. Auf der einen Seite verlief
der Weg in Richtung Schule, auf der anderen ging es, auf dem krummen
„Bananenwegle“, hinab zum Stadtzentrum. „Links drüben gab es noch einen
Weg in Richtung Dürrmenz. Aber da ging man nicht hin, dort lebten die
Hugenotten.“
Schlug der Blitz in den Sender ein, was oft geschah,
musste der Vater auf einer gewaltigen Leiter im Inneren des Masts – auf
alten Bildern noch erkennbar – hochklettern, um den Schaden an der
Antenne zu begutachten. 190 Meter Aufstieg auf einer Holzleiter ohne
jegliche Sicherung – damals noch die Normalität. „Den Kindern war
natürlich verboten, hier zu klettern.“ Als es wieder einmal gewaltig
blitzte, kam der jüngere Bruder angerannt und meinte: „Jetzt isch aber
mei Herz g’laufa.“
Viele andere Kinder gab es nicht, am damals
noch öden und verlassenen Senderhang. Da waren der Otto Kirschmer und
ein Sohn der Doblers, der ein wenig älter war. Die drei spielten
zusammen Fußball im Schatten des Sendermasts, wobei Dorothee ihren
festen Platz im Tor hatte.
„Angst vor dem Blitz hatten wir keine, der hat ja immer in den Sender eingeschlagen“
Zur
Volksschule in der Stadt hat eine halbe Stunde Fußweg nicht gereicht,
zurück dauerte es, wegen des Anstiegs, noch länger. Auf halber Höhe
konnten sich die Kinder im Schatten eines Pumphäuschens, das Dorothee
Windmiller 2013 vergeblich sucht, ausruhen. Im Winter, wenn die Kinder
bei Eisglätte den Berg nicht schafften, trug sie der Hausmeister
huckepack hoch.
Die Erinnerungen sind so lebendig wie einst. Die
Lehrerin, die jeden Morgen den Jungs rein prophylaktisch mit dem
Rohrstock den Weg durch den Tag zeigte und einmal so schwungvoll
ausholte, dass sie den Adventskranz gleich mit abräumte …
Oder
der Fall mit der Maus, die ausgerechnet direkt vor einer wichtigen
Ansprache, die im Rundfunk übertragen werden sollte, ein Kabel des
Senders durchknabberte. Hektisch wurde die gesamte Strecke vom
Maschinenraum bis zum Mast aufgegraben und der Schaden – gerade noch
rechtzeitig – behoben. Die Maus allerdings bezahlte den Anschlag mit dem
Leben …
Die alte Schule, war es die Schillerschule? In diesem
Punkt ist sich Familie Windmiller nach ihrem bewegenden
Muttertagsausflug nicht ganz sicher. Dafür aber stößt sie, eher
zufällig, auf das Gebäude, in dem einst das legendäre „Storchennest“
untergebracht war, in dem Bruder Hermann 1938 das Licht der Welt
erblickte.
(Mühlacker Tagblatt vom 15.05.2013, Text: Ursula Windmiller / Thomas Eier; Fotos: privat, Meyer)